Sonntag, 29. April 2012

Mrs Du Valle auf 5


Ich gehe den Fünfer und die Wanderer glotzen mich an wie Taliban den heiligen Rock. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei unter Menschen. Mrs. Dalloways Gang durch die Welt aus Glas fällt mir ein und ich beschließe Mrs. Du Valle den 5er gehen zu lassen.

Sie hört die Vögel und sie hört sie nicht. Sie sieht das helle Grün der austreibenden Buchen und fühlt - nichts. Sie geht. An der Wegbiegung steht ein älteres Paar. Es verstummt, als es sie gewahrt. Sie bleiben stehen und mustern sie, als sie vorbei geht. Vor einem Mann wären sie aufgebrochen und zügig weitergelaufen.

Etwas weiter sieht sie hinauf durch die Baumkronen. Blauer Himmel mit bewegter weißer Wolkenwatte. An manchen Stellen dunkle Löcher, es sind wohl schwerere Wolken.

Ein Wind ist aufgekommen und die Wipfel schwingen und schwanken ein verwirrendes Muster. Sie sind noch nicht geschlossen, die Zweige tragen grüne Zacken von knospenden Blättern. Einen Augenblick taucht Mrs. Du Valle in das Gefühl "kindliches Staunen" ein. Aber schon spürt sie davon nur noch ein flüchtiges Lächeln von Erinnerung. Sie wendet sich weiter. Die Alten, die -anderen- Alten haben sie inzwischen wieder überholt. Nun kann sie langsamer gehen.

Die Bäume strecken Knospen, Blätter und unscheinbare Blütenkränze von Hellbraun in den Weg. Aus dem Boden schießen die Blattlanzen der Maiblumen. An sonnigen Stellen leuchten erste barock geschwungene Maiglöckchen aus den dunklen Teppichen. An einem Blättchen bemerkt sie einen Kranz feinster weißer Härchen.

Warum entdeckt sie es nach 60 Frühlingen in diesem Jahr zum ersten Mal? Es gehörte zu den unwichtigen Dingen. Wichtig war, nicht allein zu sein oder vielmehr: zusammen zu sein. Nun, wo sie allein ist, wird die Welt mit ihren Wundern wichtig. Der Duft, den sie nicht riecht, der Gesang, den sie nicht hört. Vor Einsamkeit. Wie sehr ersehnt der Mann, die Frau in der Beziehung die Freiheit! Aber wie zum Sterben einsam ist die Freiheit! Sie denkt an ihr bekannte einsame Männer und Frauen. Deren Leben ist entweder an die Herkunftsfamilie und an die Liebe zu den Kindern geknüpft oder ein Leben der zeitlosen dahin-Erwartung. Sie haben die Suche aufgegeben, sie betäuben die Sehnsucht mit Alc, Arbeit, Moral oder Sex. Aber sie fürchten auch die Berührung, die sie ersehnen. Sex hilft, aber der Spaß ist es nicht ganz. Eine Massage macht so wenig Liebe wie vibrierende Atmung nach der Methode Hindustan im "Babbit" des S.Lewis. Wer, der selbst die Angst vor der Einsamkeit spürt, würde die verzweifelten Methoden der Wellnes zur Überbrückung des Abgrunds verachten? Sie jedenfalls nicht, deren Freundin immer einmal in die eiskalten Erfrischungen des Ich springt und ihr großzügig Zeit für das Gleiche einräumt.

Da vorne an der Bank zur schönen Aussicht trifft sie ihr Paar wieder. Zwei andere Alte stehen dabei. Unmöglich, sich hier hinzusetzen. Als sie rasch vorbei ist, die steinigen Fußpfade zum Rückweg hinter sich hat, sichtet sie die aufgefangenen Gesprächsfetzen von Gesundheit und Talkshow. Wie abgrundtief langweilig!

Aber redet sie, wenn sie mit X unterwegs ist und andere Leute trifft anderes? Es sind doch die nächsten Themen des Außen, wenn man innen voll ist. Es verbindet die Nachbarschaft der Menschen zu einem Netz der Friedlichkeit. So kann der Druck aus den Beziehungen kontrolliert ins Unverbindliche abgelassen werden. Und man braucht keinen Suff oder die raffinierteren kulturellen Rauschmittel.

Jetzt, allein, haßt sie all das Spießige, das sie sonst als unschuldige Freude genießt.

Aus der Einsamkeit schickt sie noch einmal einen Gedanken in die Ewigkeit. Er stößt sich an diesem Sonntagserleben und fällt in eine trockene Erklärung: Warum freut man sich am Anblick mancher Kinder, an der Erinnerung der eigenen Kindheit, noch so schlimm erlebt? Sie schwatzen nicht nur den Alltag. Sie schweigen auch staunend vor der Ewigkeit, deren Anblick sie im Alter mit Geschichten zuzudecken versuchen. Der Gedanke Ewigkeit ist schwer auszuhalten. Wenn das Kind erkennt, dass das Geschenk, darin leben zu dürfen mit dem Tod verknüpft ist, wird es erwachsen, vernünftig und geschwätzig. Aber es bleibt dennoch ein tröstlicher Anblick in einem Leben der Sehnsucht.

Denn es bringt auch das erfrischende spontane Lachen in die Welt, das so viel mehr Freude ausgießt als das doch oft suffisante Lächeln der Weisheit.

Mrs. Du Valle schließt das Buch Sehnsucht und ruft ihre Freundin an. Der Mann ist gerade auf Sportschau. Das geht mindestens eine dreiviertel Stunde. Dann wird sie in der Bar zum einsamen Koller mal sehen, was es aufzureißen gibt.

29.04.12

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