Ich gehe den
Fünfer und die Wanderer glotzen mich an wie Taliban den heiligen Rock. Es ist
nicht gut, dass der Mensch allein sei unter Menschen. Mrs. Dalloways Gang durch
die Welt aus Glas fällt mir ein und ich beschließe Mrs. Du Valle den 5er gehen
zu lassen.
Sie hört die
Vögel und sie hört sie nicht. Sie sieht das helle Grün der austreibenden Buchen
und fühlt - nichts. Sie geht. An der Wegbiegung steht ein älteres Paar. Es
verstummt, als es sie gewahrt. Sie bleiben stehen und mustern sie, als sie
vorbei geht. Vor einem Mann wären sie aufgebrochen und zügig weitergelaufen.
Etwas weiter
sieht sie hinauf durch die Baumkronen. Blauer Himmel mit bewegter weißer
Wolkenwatte. An manchen Stellen dunkle Löcher, es sind wohl schwerere Wolken.
Ein Wind ist
aufgekommen und die Wipfel schwingen und schwanken ein verwirrendes Muster. Sie
sind noch nicht geschlossen, die Zweige tragen grüne Zacken von knospenden
Blättern. Einen Augenblick taucht Mrs. Du Valle in das Gefühl "kindliches
Staunen" ein. Aber schon spürt sie davon nur noch ein flüchtiges Lächeln
von Erinnerung. Sie wendet sich weiter. Die Alten, die -anderen- Alten haben
sie inzwischen wieder überholt. Nun kann sie langsamer gehen.
Die Bäume
strecken Knospen, Blätter und unscheinbare Blütenkränze von Hellbraun in den
Weg. Aus dem Boden schießen die Blattlanzen der Maiblumen. An sonnigen Stellen
leuchten erste barock geschwungene Maiglöckchen aus den dunklen Teppichen. An
einem Blättchen bemerkt sie einen Kranz feinster weißer Härchen.
Warum entdeckt
sie es nach 60 Frühlingen in diesem Jahr zum ersten Mal? Es gehörte zu den
unwichtigen Dingen. Wichtig war, nicht allein zu sein oder vielmehr: zusammen
zu sein. Nun, wo sie allein ist, wird die Welt mit ihren Wundern wichtig. Der
Duft, den sie nicht riecht, der Gesang, den sie nicht hört. Vor Einsamkeit. Wie
sehr ersehnt der Mann, die Frau in der Beziehung die Freiheit! Aber wie zum
Sterben einsam ist die Freiheit! Sie denkt an ihr bekannte einsame Männer und
Frauen. Deren Leben ist entweder an die Herkunftsfamilie und an die Liebe zu
den Kindern geknüpft oder ein Leben der zeitlosen dahin-Erwartung. Sie haben
die Suche aufgegeben, sie betäuben die Sehnsucht mit Alc, Arbeit, Moral oder
Sex. Aber sie fürchten auch die Berührung, die sie ersehnen. Sex hilft, aber
der Spaß ist es nicht ganz. Eine Massage macht so wenig Liebe wie vibrierende
Atmung nach der Methode Hindustan im "Babbit" des S.Lewis. Wer, der
selbst die Angst vor der Einsamkeit spürt, würde die verzweifelten Methoden der
Wellnes zur Überbrückung des Abgrunds verachten? Sie jedenfalls nicht, deren
Freundin immer einmal in die eiskalten Erfrischungen des Ich springt und ihr
großzügig Zeit für das Gleiche einräumt.
Da vorne an der
Bank zur schönen Aussicht trifft sie ihr Paar wieder. Zwei andere Alte stehen
dabei. Unmöglich, sich hier hinzusetzen. Als sie rasch vorbei ist, die
steinigen Fußpfade zum Rückweg hinter sich hat, sichtet sie die aufgefangenen
Gesprächsfetzen von Gesundheit und Talkshow. Wie abgrundtief langweilig!
Aber redet sie,
wenn sie mit X unterwegs ist und andere Leute trifft anderes? Es sind doch die
nächsten Themen des Außen, wenn man innen voll ist. Es verbindet die
Nachbarschaft der Menschen zu einem Netz der Friedlichkeit. So kann der Druck
aus den Beziehungen kontrolliert ins Unverbindliche abgelassen werden. Und man
braucht keinen Suff oder die raffinierteren kulturellen Rauschmittel.
Jetzt, allein,
haßt sie all das Spießige, das sie sonst als unschuldige Freude genießt.
Aus der Einsamkeit
schickt sie noch einmal einen Gedanken in die Ewigkeit. Er stößt sich an diesem
Sonntagserleben und fällt in eine trockene Erklärung: Warum freut man sich am
Anblick mancher Kinder, an der Erinnerung der eigenen Kindheit, noch so schlimm
erlebt? Sie schwatzen nicht nur den Alltag. Sie schweigen auch staunend vor der
Ewigkeit, deren Anblick sie im Alter mit Geschichten zuzudecken versuchen. Der
Gedanke Ewigkeit ist schwer auszuhalten. Wenn das Kind erkennt, dass das
Geschenk, darin leben zu dürfen mit dem Tod verknüpft ist, wird es erwachsen,
vernünftig und geschwätzig. Aber es bleibt dennoch ein tröstlicher Anblick in
einem Leben der Sehnsucht.
Denn es bringt
auch das erfrischende spontane Lachen in die Welt, das so viel mehr Freude
ausgießt als das doch oft suffisante Lächeln der Weisheit.
Mrs. Du Valle
schließt das Buch Sehnsucht und ruft ihre Freundin an. Der Mann ist gerade auf
Sportschau. Das geht mindestens eine dreiviertel Stunde. Dann wird sie in der
Bar zum einsamen Koller mal sehen, was es aufzureißen gibt.
29.04.12