Samstag, 1. November 2014

Alte Geschichten



Als Dr. Smirc das Buch Kobo Abe aufschlägt, rieselt ihm eine Tüte Sand entgegen. Es riecht wie schimmeliger Reis. Die Buchseiten sind aufgedunsen. Und als er darauf drückt, quellen rote Tropfen hervor. Hulda Grannina Putina, eine entfernte Verwandte von Väterchen Stalin, hat auf die Frage, ob sie sich bei ihm einschweigen wolle, die Hand Gottes ergriffen und sich davon gemacht. Also zieht er alleine durch die Fußgängerzone.

Da gehen Menschen über das Pflaster, da springen Kinder hinter Tauben her, da stehen sie am Cafe´ständer des Billig, da öffnen Kniebettler die Büchse in den rumänischen Off. Draußen aber kreisen die Autos um Stadt, Knast und Anstalt. Sag, wo ist Deine Fabrik?

Eine alte Geschichte fällt ihm ein. Der neue und junge Chef spritzte herein und ließ gewaltige Dankeshymnen vom Stapel: „Ihr glaubt ja nicht, wie dankbar ich bin, dass Ihr mir nichts in den Weg gelegt habt!“ Warnix, heute Doktor, Psychagog und ausgefuchster Rheinhesse, und Smirc schauten einander peinlich berührt an. „Was hat er denn? Was ist denn das: Karriere!“ Sie lachten. Es ging doch um Bruderschaft und Anstand in einer neuen Welt.

Das Lachen ist ihnen vergangen. Sie haben selbst Karriere gemacht und müssen eine Menge Energie aufbringen, den Anstand nicht ganz zu verlieren. Nun ja: er ist – wie man so sagt – etwas geworden.  Er wird mit den gesamten Restprofitlern einer besser gemeinten Zeit in die Heimatgeschichte eingehe, Gähnen um Gähnen erzeugen.

Da ist doch die Ruine von Kibbes noch in diesem Zustand ein ganz anderer Anblick. Zotteliger Bart, fettige Haare, T-Shirt mit Hool-Sprüchen. Was weiß, was merkt er davon? Er wartet auf Charms, der sein Sohn sein könnte, auch nach dem verbeulten Outfit. Sie reißen ihre zwei Stunden Wohlfahrtsmaloche runter und legen sich dann wieder in eine Ecke Weitab. Man hat sie nicht gebraucht. Aber sie glauben bis heute noch an die Sprüche von der Solidarität und winken Dir zu, während sie tiefer und tiefer ins Vergessen der alten „Genossen“ versinken. Tapfer, tapfer wählen sie links, schimpfen sie auf „das Kapital“, gehen sie mit der peinlich berührten Gewerkschaft, die doch eher auf Kultur steht. Und die Kumpel machen sich schnell in den schwarzen BMW oder was.

Dr. Smirc: „Kibbes, was sagst Du zum alt werden?“ 

K:“Weißt Du doch! Am liebsten ein Schlag und  weg! Was ist alt? Keine Ahnung. Da scheint die Sonne, da gibt’s einen kaffee umsonst. Es zwickt und alles tut weh. Aber ist doch schön hier! Stellt Dir vor in Afrika! Oder bei den Taliban! Wir bleiben doch bei der Sache!“ Klatscht ihm die Hand auf die Schulter.

Dr. Warnix, Psychagog und Drosophil, wendet sich an den mit seinen Aktienkursen beschäftigten Intellektuellen: „Ich höre da einen gewissen depressiven Unterton. Als würdest Du ständig über eine verlorene Hoffnung jammern! Geht es Dir denn nicht hundert mal besser als diesen trüben Gestalten?“

Gott, der gerade von einem Schrei aus Kobane kommt: „ Eben!“ Ein Hool der IS hat gerade wieder eine Familie Menschen geschlachtet. Wo bleibt das Echo in Euren Herzen, Ihr Käufer und Säufer?
Aus dem Kirchenfenster Xulda: „Komm rein, die Andacht ist angerichtet!“
Dann sinkt die Nacht herein. Gott-sei-Dank: es ist nicht die letzte.

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gelöscht aus Tag und Traum 2012 und 2013 (44 Texte, 1.078 Aufrufe)

* 2012    Wo ist Gott in der Nervenklinik                     24 White Bird                                                             ...