Samstag, 3. September 2022

auf Wofl (2020)

Mein Freund W

 

Die letzten Begegnungen hatte ich wohl in den 70ern. War er es, der mich um Unterstützung für einen RAF-Mann bat? Unglaublich wie weich das Gewebe meines Gedächtnisses ist. Wir kamen schon eher aus der Anarcho-Ecke. Er könnte es schon gewesen sein.

 

Ich lehnte ab - aus Angst. Wie sich später zeigte, war das anständiger so. Schon früher hatte ich unsere Sache verraten, indem ich -ebenfalls aus Angst- den Wehrdienst nicht verweigerte, sondern ableistete. Und ich ließ mir ohne großen Widerstand die Haare schneiden. Ich scheute nach solchem Verrat 20 Jahre den Kontakt mit Wofl.

 

Der Zug fährt gerade an einem gewaltigen Betonblock von Büros vorbei. Ruhm des Architekten! - Unser Ding war eher amerikanischer underground oder was wir darunter verstanden. "Grassroots".

 

Meine Umarmung - ich kam aus frischer therapeutischer Erfahrung- war wohl etwas zu stürmisch. Er war unangenehm überrascht, hatte gerade den Marathon Blues Brothers hinter sich, Regisseur und Hauptrolle und hätte wohl etwas Applaus statt plötzliche seltsame Freude von seltsamem Freund verdient, reagierte kalt. Ich nahm es ihm, vermutlich doch zu Unrecht, übel und schloss das Kapitel.

 

Nun sagt man mir, er sei nach unserer - vor etwa 18 Jahren erfolgten - letzten Begegnung verstorben. Ein Unfall.

 

Er war der freiere, mutigere von uns geblieben, ich der verantwortlicher Brave. Anarchistisch gesprochen war ich mehr nach Kropotkin, er mehr nach Bakunin gegangen. Nach Marx gehörten wir wohl beide der gleichen kleinbürgerlichen Pfälzer Jodeltruppe an. Er liberaler Schwärmer, ich sozial verdrehter Prediger unterm Dach.

 

Warum konnte man, ich, nicht mit dem Einordnen aufhören und einfach nur Freund sein?

 

Wir lernten uns kennen, indem wir einander das Wort "Faschist" an den Kopf warfen. Wir versuchen einander in den Wellenkämmen der ideologischen Strömung zu halten, lachten und fluchten über eine Welt von Spießern. Er verdiente dann an ihrem Applaus, ich in ihren Behörden...

 

Ein chinesischer Text fällt mir ein: Fan Dschung-yän Gedenkschrift für den Yüe-Yang-Pavillon; (Aus der Ruf der Phönixflöte, Rütten&Loening Berlin DDR 1973 S 338/9)

 

"Ach, oft hab ich gefragt, worin die Alten in ihrer Güte anders waren als wir! Der Schein der Dinge machte sie nicht glücklich, nicht traurig stimmte sie das eigne Leid. Wenn sie am Hof in hohen Ehren standen, erfüllte sie das Leid des Volks; waren sie verbannt, erfüllte sie der Schmerz um ihren Herrn. In Ehren litten sie und in Erniedrigung."

 

In der Republik ist der Schmerz um die Herrschaften geringer, der um die Republik und die Freunde größer.

 

Wir dachten wohl beide im Stillen stets an die Begeisterung unserer Jugendzeit. Er blieb dem Geist der Freiheit weniger bedingt treu, ich versuchte, nicht immer mit Erfolg, diesen Geist mit dem der Verantwortlichkeit abzustimmen.

 

Aus meiner Erinnerung leuchtet unsere damalige gemeinsame Begeisterung über meinen Weg. Es gibt einige Lichter von dieser Sorte. Wie grau es ohne sie wäre!

 

28.8.20

 

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