Freitag, 27. November 2015

Ginkgo

Es war einmal ein Ginkgo-Blatt, das keine Ahnung von Goethe hatte. Es fiel vom Baum in meinem Garten in den nassen Fußweg und überlebte so meine Dekoverzweiflung zum Geburtstag. Heute morgen sah ich es unter den Blattmassen eines amerikanischen Traums von Blutbuche und unter braunen Blattresten weiblicher Sehnsucht in toscanischen Zypressen. Es hatte so gar nichts Klassisches von Weimarner Ewigkeits-Geschäftstüchtigkeit an sich. Vielmehr hatte ein graugrüner Schimmel einen kleinen Kreis eingefressen und eine dunkelbraune Kollegin schmutzige Linien, an der entlang sich eine von den schwarzen Nacktschnecken vorarbeitete. Aus einem gelben Gesang war ein rötlich-feuchter Lappen geworden.

Ausgedörrte männliche Gestalten in Krankenhaus - Funktionskleidung huschen vorbei, beugen sich über Leidendes, finden den Weg zurück in die Serie nicht mehr, verdammt zur Hilfe. Gut gelaunt, man steht am, liegt nicht im Krankenbett.

Viele letzte Blätter auf dem Weg in die Krankenhaus - Cafeteria. Schön, das Grüngelb über den auf das Rheinhessen -  Pflaster gefallenen roten Beeren. Ich habe einen Schmerz und Gott, von dem ich nicht mehr weiß,  ob ich an ihn glaube, hat sich davon gemacht. Diese Wege gehe ich allein mit einer zusammengepressten Erinnerung.

Ich sehe meinen nackten Ginkgo-Baum vor mir. Alle finden den "Faust" als eine gräßlich langweilige Oberlehrer - Symbolik, müssen sie aber über die Jahrhunderte hinweg durch ihre Gedanken ziehen, weil eine hilflose Intellektuellenschaft sich nicht an eine Revolution frei kommunizierender Kultur heran traut. Natürlich gehört die Sehnsucht eines Goethe nach ewigem Leben dazu. Aber doch nicht in die Lehrbücher von Schülern, die im Jetzt leben, tanzen, ächzen, ganz andere Wunder und Abstürze erleben als ein sinnierender Professor.

Mein Ginkgoblatt sinkt in ein hellblaues japanisches Wasser. Es ist so Plastik, so digital und Tusche schwarz auf weiß, daß ganz Andere. Die Erinnerungen lösen sich auf in unerfüllte Sehnsuchten, die in weiten Einsamkeiten vergangenen Lieben nachspüren. Das Atmen fällt leichter, dickes schwarzes Blut verflüssigt sich wieder zu Leben.

Und ich bin geliebt. Du bist da. In unserem Kreis. Und die "Nein" sagende Zeit ist so wenig wahrhaftig wie der Raum, der uns einst voneinander entfernen wollte. Ich erzähle nur deshalb von meinem Ginkgo, weil es Euch gibt.

Ich erzähle meinem Freund. Er, sie, heißt Mensch. Du triffst ihn, sie nicht bei den Massen. "Doch", ruft X und sie hat recht. Nur ich treffe ihn nicht unter Massen, sondern an meinem Tisch in der Cafeteria eines Krankenhauses.

Es war einmal ein Ginkgoblatt. Und jetzt ist es.

26.11.2015

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