Sonntag, 11. September 2011

Verputzen



Ich gehe an einem renovierten Fachwerkhaus vorbei. Ein Brocken Verputz fällt ab und zerbröselt. Kleben wir nicht so an unserer Welt, bis wir auf das Pflaster fallen und wieder in den Fließsand zurückkehren?

Ein Mann im braunen Ethnopullover einer vergessenen Periode der 68er geht vor mir. Die rötlich-blonden Haare stehen struppig zusammen in einem platt getretenen Büschel. Sie glänzen in natürlichem Fett. Das Gesicht verschwindet hinter dem sich in einen Bart fortschwingenden Gestrüpp.

Das erinnert mich an den verstorbenen Freund aus alter Zeit namens Fuzzy.

Was wisst Ihr von den phantastischen Perspektiven dieser Zeit der Freundschaft? Wenn Ihr dabei wart: was habt Ihr dagegen eingetauscht?

Fuzzy mit den flinken Äuglein ging noch eine ganze Weile mit langen Haaren durch das Kaff, als wir längst schon nach akzeptablen, etwas frech angepassten, Frisuren suchten. Wer lachte nicht über ihn, den schwatzhaften Trinker, der mit unaufhörlichem Augenzwinkern nach Zustimmung suchte? Wer blickte sich nicht lieber nach Wichtigkeiten der Gemeinschaft um, sich mit höflich gesenkten Augen innerlich zu bücken?

Er wurde vom Trinker zum Säufer, die Frau ließ sich von dem immer hässlicher und abgeschabter werdenden Schwätzer scheiden, der vom Stammtisch immer üblerer Kneipen nicht mehr wegzukriegen war. In einem Nebel von Bildschlagzeilen, anarchistischen Ausbrüchen und Nazismus landete er schließlich unter einer verschmutzten Pritsche von Krankheit, die ihn rasch in einen besoffenen Tod drückte.

Wo waren wir? The brotherhood of man...

Das Problem war: er konnte unseren Höhenflügen nicht folgen. Wir verließen ihn aus Langeweile. Die Sache mit den intellektuellen Weltverbesserern: Die Menschenbrüder mögen sich doch bitte an das hohe Diskussionsniveau anpassen! Sonst erlischt der Elan rasch. Anderen ist das geringe Niveau ganz recht, wenn ihnen im Kampf um die Vorherrschaft in ihren Spielchen der -immer gut gemeinten - Menschenpark-Gestaltung etwas Führerschaft eingeräumt wird. Voll Ekel wendet sich der Rest der höheren Töchter und Söhne der Menschenbruderschaft ab von Politik und der Kulturmeisterschaft zu. Sorry, Fuzzy, über Deine so grob vorgetragene Sehnsucht nach Freiheit und gleichem Recht, über Deine rustikale Erwartung von Solidarität waren wir schon lange hinaus. Uns war peinlich, so direkt an unsere Versprechen erinnert zu werden. Wir wichen Dir aus, sahen Dich peinlich berührt im Sumpf des Alkohol und Nazismus versinken. Die Typen von Sekt und Schnittchen waren uns näher.

Der braune Pullover setzt sich auf die Stahlbank des Verschönerungsvereins. Er lächelt, soweit der Bart einen Schluss darauf zulässt, verträumt in die Herbstsonne. Ob er einen Blick in die Ewigkeit nimmt?

Ein paar verblödete Intellektuelle, die den Übergang von der totalen Stammeskontrolle zur Autonomie der Person nicht verkraftet haben, lenken ein Flugzeug in den Wolkenkratzer. Wenn es einen Gott gibt, krampft sich ihm jetzt das Herz zusammen. Der braune Pullover schüttelt den Kopf. Eine Menschenseele kann so etwas nicht verstehen.

Angeblich kämpfen sie ja einen Kampf aus der Ewigkeit gegen das Böse in der Zeit. Sie sollten einfach nur das erste Gebot der Ewigkeit achten und Gott nicht mit ihren primitiven Stammestabus zur Familienpolitik und Kleiderordnung belästigen. Faulenzer, die beleidigt sind, weil die Welt nicht wie eine rechtlose Mama an ihnen aufsieht. Sind sie so viel anders als die verzogenen masters of war? Sieh die Kriegsbeter vom Bible-Belt, denen Jesus kein Bruder ist, sondern ein König, was anders als ein Imperator?

Eine allzu bekannte Einsamkeit fließt plötzlich in ihn ein. All diese Familien, all diese ins Höhere strebenden verlorenen Hoffnungen. Worüber könnte er mit ihnen reden? Sie betrachten ihn als eine Art Verrückten auf Abruf. Noch ist er in der sanften Phase. Wann wird er wohl mit wutverzerrtem Gesicht auf ihr Wohlsein einspringen?

Zwischen von Moral gesteuerter Gehässigkeit und Swingerlaune heben sich Ebbe und Flut der Fußgängerzone. "Guten Tag, Herr X" (Name der bemerkenswerten Persönlichkeit des öffentlichen Kleinstadtlebens). Nach dem Small-Talk (man kennt einander ganz gut) "Eine ziemlich korrupte Type, dieser X." Hast Du den Kerl im braunen Pullover gesehn? Ja, das waren Zeiten!

Eine Gewitterwolke steigt hinter dem Gourmet-Ensemble auf. Man rückt näher zusammen. Super-Event. Ist ne Top-Location, das. Und was machen wir morgen?

Dann im Bett: Stimmt schon, da war auch einmal Liebe! Der Regen rauscht, das Wasser drückt sich durch die Fenster. Verflucht!-

Was wohl der Typ im braunen Pullover jetzt macht? Eine Wolke reißt auf und taucht die Gärten in Mondlicht. Das ist einer der möglichen Augenblicke, einen Blick in den schwarzen Spiegel Ewigkeit zu tun. Ich kann Dir nicht sagen, was Dich darin erwartet. Vielleicht hat der braune Pullover eine Ahnung davon.

11.09.11


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